2. August: Von Schnitterin und Kornmutter
von dorastochter
Hejo, spann den Wagen an
Inzwischen ist es Sommer geworden und damit ist die arbeitsreiche Zeit der Kornernte herangekommen, wie es das weitum bekannte Volkslied so schön zum Ausdruck bringt: "Hejo, spann den Wagen an. Denn der Wind treibt Regen übers Land. Hol die gold’nen Garben, hol die gold’nen Garben!" Es sind die heissesten Tage im Jahr – und doch riecht es plötzlich ein wenig nach Herbst. Die Nächte kühlen stärker ab, mit jedem Regenguss ein wenig mehr, und am Morgen liegt jetzt wieder Tau auf den Wiesen. Die Zeit der Schnitterin ist gekommen und mit ihr hält nun der Tod Einzug ins mythologische Jahr.
Es gilt die Spreu vom Weizen zu trennen
Es ist Erntezeit – eine arbeitsreiche Zeit. Es gilt die Spreu vom Weizen zu trennen, klare Entscheidungen zu treffen, Grenzen zu setzen, die Ernte zu verarbeiten und haltbar zu machen. Gleichzeitig wirken aber auch noch die verführerischen Kräfte des Sommers um uns her und manch eine/r wird sich von der anstehenden Arbeit noch einmal abhalten lassen … Nicht nur, wer in der Landwirtschaft tätig ist, hat jetzt alle Hände voll zu tun. Das Schneiden des Korns aber ist eine besonders bedeutungsvolle und wichtige Arbeit. Der Umgang mit dem Tod bedarf auch bei der Ernte einer rituellen Begleitung. Erntelieder, Bräuche und Erntedank zeugen noch davon. Vielerorts wird aus der letzten Garbe ein besonderes Brot gebacken. Manchmal bleibt auf dem abgeernteten Feld eine Strohpuppe zurück – für die Tödin, damit sie die Puppe, nicht den Menschen nimmt, denn den Letzten, so heisst es, holt der Roggenwolf.
Die Schnitterin geht über’s Land
Die Kräuter haben die Kraft der Sonne in sich aufgenommen und sind kräftiger denn je. Die Zeit der Kräuterernte zwischen Mariä Himmelfahrt am 15. August – früher auch "Büschelfrauentag" genannt – und Mariä Namen am 12. September ist als Frauendreissiger bekannt. Es heisst, dass an vielen Tagen, die in dieser Zeitspanne liegen, ein dreifacher Segen auf Tieren und Pflanzen ruht, und dass die Heilwirkung der Kräuter auf das Dreifache erhöht sei. Kein Wunder also, dass Frauen sich in dieser Zeit ein magisches Sträusschen binden und sich so eine kleine Winterapotheke anlegen.1
Die Sonnenstrahlen werden jetzt gekürzt
Die Schnitterin trägt ihre Sichel wie den abnehmenden Mond ins Land hinein. Was reif ist wird geerntet. Sie setzt die ersten Schnitte. Behutsam, aber bestimmt. Der Sensenmann vielleicht mäht nieder, die Schnitterin aber berührt dank ihrer Sichel alles was sie nimmt auch mit der Hand. So kürzt sie die Sonnenstrahlen, auf dass auch die Tage wieder kürzer werden. So leitet sie die dunkle Hälfte des Jahres ein, auf dass sich die Lebenskräfte wieder zurückziehen und auch wir uns wieder mehr nach innen wenden. So schneidet sie das Korn, auf dass wir im Winter volle Speicher haben. Mit heilender Berührung noch während sie ihre Schnitte setzt. Was sein und werden will kann nicht bleiben ohne sich zu wandeln – wo ein Werden ist, ein Wachsen, ist stets auch Wandlung mit im Spiel. Und da, wo Wandlung geschieht, sichelt irgendwo im Hintergrund auch die Schnitterin fleissig mit. Wir kommen zur Welt – und wer zertrennt die Nabelschnur?
Feuer und Wasser
Das Fest der Schnitterin am 2. August liegt im Süd-Westen des Jahresrads – und vereinigt in sich die Qualitäten von Feuer (Süden) und Wasser (Westen). Beide Kräfte sind stark transformierend, erzeugen gemeinsam aber auch eine grosse Reibung. Das Feuer hat in der höchsten Kraft der Sonne seinen Zenit erreicht und sich in Kräuter, Pflanzen und Früchte hinein gegeben. Für das Feuer wird es Zeit, sich allmählich zu wandeln und aus der Höhe des Himmels in die Backöfen und Herdstellen herabzusteigen, wo es uns hilft, das Brot zu backen und uns über den Winter warmzuhalten. Das Wasser hingegen, welches sich über den Sommer zurückgehalten hat, zieht leise ins Land und wird immer stärker. Der Regen löscht die Glut und dämpft die Hitze. Dann kühlen auch die Nächte wieder ab und morgens liegt auf den Wiesen der Tau. Die ersten leichten Nebelschleier legen sich über die Erde. Auf den Flüssen tanzen die Wasserfrauen. Es wird feuchter, kühler, dunkler.
Die Umkehr
Die Kräfte der Sommersonnenwende Die Umkehr der wirkenden Kräfte wird erst mit den Festen nach den Sonnwenden, Lichtmess (2. Februar) und Schnitterin (2. August) eigentlich spürbar. Im Winter erleben wir zu Lichtmess den Lichtsprung. Wir spüren, dass das Licht tatsächlich wieder wächst, wir hören wie die Vögel darauf reagieren – die Energie drängt spürbar nach aussen. Zum Fest der Schnitterin beginnen wir die Auswirkung der Sommersonnwende zu spüren, der Schwung des Jahres läuft aus und erlebt seine höchste Ausdehnung, ehe die Energie umschwingt und sich die Lebenskräfte wieder zurückziehen. Wenn die Schnitterin kommt und mit ihrer Sichel das Korn schneidet, zeigt die Tödin ihre lebenserhaltende Kraft der Wandlung: Aus dem geschnittenen Korn entsteht das nährende Brot, ohne das wir den Winter nicht überleben könnten. So singen denn die Schnitterinnen und Schnitter im angelsächsischen Teil Englands das Lied von John Barleycorn – Gerstenkorn –, der an diesem Tag sein Leben zum Wohl der Menschen lassen muss, da er geerntet wird.2 In der einen Hand trägt die Schnitterin den Tod, in der anderen das Leben. Wir kennen dieses Bild von der heiligen Notburga, die ganz in der Tradition eines alten mitteleuropäischen Kultes rund um die bekannte Kornmutter steht, die wir als Hertha kennen, als Berchta, Holle und Hel.3
Die Kornmutter
In der griechischen Getreidegöttin Demeter begegnen wir der Kornmutter par excellence. Im Mittelpunkt der ihr gewidmeten Eleusinischen Mysterien stehen drei Ähren als Symbol für Leben, Tod und Wiedergeburt – verschiedene Stadien, von denen auch die Mythen rund um Demeter berichten:
Aus den Mythen der Demeter
"Demeter ist eine sehr sanfte Göttin. Ihre Tochter ist Kore. Hades, der Gott der Unterwelt, verliebte sich in Kore und entführte sie in sein Reich. Das brachte Demeter tiefen Kummer, sie wanderte über die Erde hin und suchte ihre Tochter überall, aber vergeblich. Nichts konnte sie aufheitern, so sehr ihre Freunde sich auch darum bemühten. Zuletzt verbot sie den Pflanzen zu wachsen, den Bäumen Früchte zu tragen, den Tieren sich zu vermehren, solange, bis alle Menschen gestorben wären. Nicht eher wollte sie ihren Fluch zurücknehmen, als bis Kore aus der Unterwelt zurückgekehrt wäre. Da ergriff die Götter die Angst vor dem eigenen Untergang, und sie zwangen Hades, Kore freizugeben. Demeter begrüsste Kore freudig in Eleusis und liess die Erde wieder fruchtbar werden. Aber Kore hatte in der Unterwelt von einem Granatapfel, der Todesfrucht, gekostet und musste deshalb dorthin zurückkehren. Neun Monate im Jahr, in den fruchtbaren Jahreszeiten, durfte sie bei ihrer Mutter auf der Oberwelt bleiben, aber drei Monate im Jahr, wenn die Vegetation verwelkt ist, musste sie in die Unterwelt zu Hades zurückkehren. Dort wurde sie unter dem Namen Persephone die Königin der Unterwelt. Die alte Göttin Hekate überwachte die Einhaltung dieses Vertrags."4
Demeter - Kore - Hekate
In Demeter finden wir eine sehr alte Muttergöttin, die verschiedene Aspekte des Vegetationszyklus in sich vereint. Als Kore steht sie für das grüne Getreide, als Persephone für die reife Ähre und als Hekate für das geerntete Korn. Kore, das Kornkind, kann nicht das ganze Jahr über bei ihrer Mutter bleiben. Diese Erfahrung muss in gewisser Weise auch der Bauer aus dem deutschen Märchen "Der Bauer und die Roggenfrau"5 machen. Seine geliebte Roggenfrau, die Roggenmuhme, kann den Herbst und Winter nicht mit ihm zusammen überdauern. Als Pflanzengeist erbleicht sie vor der drohenden Ernte und stirbt gemeinsam mit dem geschnittenen Roggen.
Strohpuppe, Roggenwolf und Kornbär
Irgendwo in der Ferne sehe ich sie zusammen mit Strohpuppe, Roggenwolf und Kornbär über die Felder tanzen, die Schnitterin. Dankbar winke ich ihr zu – und renne ihr zusammen mit all den anderen Erntefrauen und -männern, wie jedes Jahr, noch einmal davon. Bis die Herbststürme übers Land fegen, bin ich bereit für den Tanz mit der Tödin, auf dass ich wieder einmal zu jener werde, die ich noch nie zuvor gewesen bin, und doch irgendwie immer schon war.
Literatur
1 Andrea Dechant, Das Fest der Fülle und der Ernte, E-Book (www.artedea.net), Wien 2013, S. 4 ff.
2 Claire French-Wieser; Als die Göttin keltisch wurde, Bern 2001, S. 27
3 Heide Göttner-Abendroth, Frau Holle, Königstein 2005, S. 146 f.
4 Heide Göttner-Abendroth; Die Göttin und ihr Heros, Stuttgart 2011, S. 57 f.
5 Djamila Jaenike (Hrsg.); Blumenmärchen. Trachselwald 2014,
S. 120 ff.