1. Mai: Von Maitanz und Walpurgis
von dorastochter
Es liegt was in der Luft
Haben Sie es auch schon bemerkt? Es liegt was in der Luft – die Balzgesänge der Vögel und ihr emsiges Treiben rund um den Nestbau, das Läuten der Maiglöckchen und der Duft von Flieder, Frühling komm wieder… das Kichern und Schäkern der Menschen in den Strassen und das verspielte Getümmel des Jungvolks in den Parkanlagen.
Die hohe Zeit des Frühlings
Immer bunter wird wieder die Welt, immer mehr drängt das Leben zurück ins Freie, wo sich die Bäume in ihrem frischen, kraftstrotzenden Grün dem blauen Himmel entgegenrecken. Grün, grün, grün sind alle meine Kleider… ja richtig: weil mein Schatz, weil mein Schatz… Während die Sonne jetzt mit immer stärker werdender Feuerkraft immer höher in den Himmel steigt, beginnt auf Erden die grüne Wachstumsphase. Das Wetter stabilisiert sich, die Zeit der Kälteeinbrüche ist allmählich vorbei und das Leben treibt neu aus, strebt auf und erblüht von Neuem. Durch die Verbindung von Sonnenkraft (Feuer) und Regen (Wasser) kann es nun aufs Beste gedeihen – und genau dies sind im Mai die treibenden Wirkkräfte der Natur. Es ist die hohe Zeit des Frühlings, Hoch-Frühling, und bereits ist ein wenig Sommer zu spüren.
Der Beginn vom Sommerhalbjahr
Nach alter Vorstellung endet das Winterhalbjahr mit Sonnenuntergang am 30. April, das Sommerhalbjahr hingegen beginnt erst mit Sonnenaufgang des 1. Mai – und so haben wir es hier, ähnlich wie zu Halloween, mit einer "offenen Nacht" zu tun. Für manche ist jetzt ein Blick hinter die Schleier möglich, die Liebesorakel stehen hoch im Kurs – er liebt mich, er liebt mich nicht… Und wie jeder Übergang bedarf auch der Übergang vom Winter in den Sommer der rituellen Begleitung. Wagen wir einen Blick in jenes Weltbild, welches unserem Brauchtum ursprünglich zugrunde liegt. Es geht davon aus, dass Liebe und Eros sehr umfassend wirkende Kräfte sind. Ohne die Heilige Hochzeit1 von Himmel und Erde gibt es kein neues Leben. Ohne sie verdirbt das Land und zu Mittwinter kann die Sonne nicht mehr wiedergeboren werden. Noch schwerer aber als dies wiegt, dass ohne die gelebte, geheiligte Liebe, welche die Welt im Innersten zusammenhält, alles auseinander fallen muss. Und tatsächlich würde es irgendwann kein Leben mehr geben, wenn Frauen und Männer – nehmen wir dasselbe auch für die Tiere und Pflanzen an – sich nicht mehr anziehen und aufhören würden, sich in Liebe zu vereinen.2
Walpurgisnacht
Gemäss dieses ursprünglichen Weltbildes verjüngt sich die Liebe jährlich und kommt zusammen mit dem Grün zurück in die Welt. In der Walpurgisnacht, jener offenen Nacht zwischen dem Ende des Winters und dem Beginn des Sommers, wird sie von Neuem geboren. Wie die Riten in jener Nacht ausgesehen haben mögen, können wir heute nicht mehr genau nachvollziehen. Aber gewiss ist, dass die Liebes- und Lebenskräfte beschworen wurden, damit das Leben auf der Erde weitergeht. Später wurde das ursprüngliche Jahreszeitfest immer stärker durch die Bilder insbesondere der Inquisition überlagert, bis von den schön geschmückten Ziegenböcken und Heroen, den blumengekränzten Frauen und laubtragenden Mädchen nur noch das Zerrbild der Unzucht treibenden "Hexen" blieb.3 Ein sehr schönes Zeugnis für die Geburt der Liebe finden wir in Botticellis berühmtem Bild "die Geburt der Venus".4 Die Venus wird mit Aphrodite, der griechischen Göttin der Liebe, gleichgesetzt. Aus der Mythologie erfahren wir:
Die Myhte von Aphrodites Landgang
"Aphrodite, die Göttin der Liebe, erhob sich nackt aus dem Schaume des Meeres und ritt auf einer Muschelschale zum Ufer der Insel Kythera. Aber sie entdeckte, dass dies nur eine kleine Insel war und zog weiter zum Peloponnes. Endlich nahm sie ihren Wohnsitz zu Paphos auf Kypros. Gras und Blumen entsprangen dem Boden, wohin auch immer sie trat. Es eilten zu Paphos die Jahreszeiten, die Töchter der Temis, sie zu kleiden und zu schmücken. [...] Aber alle stimmen darüber ein, dass sie [Aphrodite] sich in die Luft erhebt, begleitet von Tauben und von Sperlingen."5
Von der Erneuerung des Feuers
Wie so oft in der Mythologie, haben wir es auch hier mit sehr universellen Bildern zu tun. In Griechenland begegnen wir Aphrodite; in Indien ist es Lakshmi, die Göttin der Schönheit, der Freude und der Liebe, die auf einer Lotosblüte reitend aus der Milch des kosmischen Ozeans auftaucht.6 Im alten Rom wird zum 1. Mai die Göttin Flora mit rituellen Tänzen geehrt und in Mittel- und Nordeuropa Frau Holle, die auf der Wiese "Morgengabe" ihren Liebsten empfängt.7 Aber nicht nur die Liebe verjüngt sich und wird neu geboren – auch das Feuer wird rituell verjüngt, denn es steht stellvertretend für die sich zyklisch erneuernde Kraft des Lebens, eine Symbolik, die auch im Bild des Phönix zum Ausdruck kommt.8 So werden in der Walpurgisnacht alle Herdfeuer gelöscht und bei Sonnenaufgang zum Zeichen für den Eintritt ins Sommerhalbjahr neu entzündet. Mit der wieder erstarkenden Sonne ist es das dem Sommer zugeordnete Element.
Maibrauchtum
Es ist nicht weiter erstaunlich, dass gerade die Bäume im Maibrauchtum eine wichtige Rolle spielen. In vielen Kulturen ist die Wesensgleichheit von Baum und Mensch tief verwurzelt. Als sich immer neu begrünender Baum ist er ein Urbild für jedes "stirb und werde", ein Sinnbild der sich stets erneuernden Natur – und wohl nicht umsonst beginnt so manches Märchen mit der Formel "zu Zeiten, als die Bäume noch sprechen konnten." Wandelnde Laubbäume wie der "Maibär" in Bad Ragaz oder der "Pfingstsprützlig" in Sulz bringen zum 1. Mai die Fruchtbarkeit zurück und bespritzen die Umstehenden mit Wasser.9
Maibaum
Eine besondere Bedeutung kommt dem Maibaum zu. Mit der Stange im Kranz bildet er das klassische "Yoni(Vulva)-Lingam (Phallus)"-Symbol des westlichen Kulturkreises und steht als Zeichen für die Fruchtbarkeit spendende, göttliche Verbindung zwischen Weiblich und Männlich.10 Es ist allerdings anzunehmen, dass die Menschen lange bevor sie die Bäume ins Dorf holten, hinausgezogen sind, um einen verwurzelten Baum mit bunten Bändern zum 1. Mai zu schmücken, darunter zu tanzen und anzubändeln. Die Nähe von Baum und Liebe kennen wir auch aus dem Grimmschen Märchen "Die Alte im Wald"11. Ein armes Dienstmädchen vermag den in einen Baum verzauberten Königssohn wieder in einen Menschen zu verwandeln – und auch die Taube mit ihrer Liebessymbolik fehlt hier nicht: "Da lehnte es sich an einen Baum und wollte auf das Täubchen warten, und wie es so stand, da war es, als wäre der Baum weich und biegsam und senkte seine Zweige herab. Und auf einmal schlangen sich die Zweige um es herum und es waren zwei Arme, und wie es sich umsah, war der Baum ein schöner Mann, der es umfasste und herzlich küsste."
Die Bräutigamseiche
Der Baum ist Treffpunkt und Zufluchtsort der Liebenden. In die Rinde werden Herzen und Namen geritzt. Unter der Dorflinde wird getanzt – und wenn die jungen Burschen ihren Angebeteten ein "Maitannli" oder einen "Maibüschel" vors Haus stellen, so sprechen die Bäume in gewisser Weise noch heute. Und apropos sprechende Bäume: Wussten Sie, dass es einen Baum mit eigener Postanschrift gibt? Es heisst, die Bräutigamseiche12 im Dodauer Forst bei Eutin habe mit ihrem toten Briefkasten bereits 100 Ehen gestiftet. Bis zu 40 Liebesbriefe soll dieser Baum täglich erhalten; und damit jene, die gerne anbändeln möchten, die Briefe auch lesen können, ist das Postgeheimnis an jenem Ort für einmal aufgehoben.
Literatur
1 "Heilige Hochzeit", Hieros Gamos, ist ein Fachbegriff der Mythenforschung und Ethnologie. Er bezeichnet die Verbindung von Himmel und Erde, welche im Ritual durch eine Priesterin, welche die unsterbliche Natur verkörpert, und einem Mann als Heros, der für die sterbliche Welt (Menschen und Vegetation) steht, leiblich vollzogen wird.
2 Heide Göttner-Abendroth, Frau Holle. Das Feenvolk der Dolomiten, Königstein 2005, S. 142
3 Ursula Seghezzi, Macht, Geschichte, Sinn, Triesen 2011, S. 313 ff.
4 Die Geburt der Venus, Bild von Sandro Botticelli (um 1485)
5 Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Hamburg 1989, S. 40 f.
6 Heide Göttner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros, Stuttgart 2011, S. 128
7 Göttner-Abendroth, Frau Holle, a.a.O., S. 142
8 Seghezzi, a.a.O., S. 313 ff.
9 Eduard Hoffmann-Krayer, Fruchtbarkeitsriten und Maibäume, in: Kurt Derungs, Mythologische Landschaft Schweiz, Solothurn 2010, S. 101
10 Seghezzi, a.a.O., S. 319 f.
11 Kinder und Hausmärchen (KHM 123)
12 Bräutigamseiche, Dodauer Forst, 23701 Eutin, Schleswig-Holstein, Deutschland