Auf den Spuren der Vogelgöttin
von dorastochter
Fliegen wie ein Vogel
Fliegen wie ein Vogel... wer hat es sich nicht schon einmal gewünscht? Im Schlaf gelingt es uns manchmal, die Schwerkraft träumend zu überwinden. Auch die Toten scheinen, aus der Körperlichkeit entlassen, der Kunst des Fliegens nahe zu sein. Vom Seelenvogel ist hin und wieder die Rede, und so ganz zufällig wird es wohl nicht sein, dass die Vogelfrau immer wieder auch gerade da erscheint, wo die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten überwunden wird. Doch wer ist sie eigentlich, diese Vogelgöttin, die über tausende von Jahren hinweg in fast allen alten Kulturen präsent und in Märchen und Mythen bis heute greifbar geblieben ist? Was wollten unsere Ahnen mit all den Figuren und Bildern, die sie von ihr geschaffen haben, zum Ausdruck bringen?
Die Vogelgöttin von Pech Merle
Natürlich gibt es nicht die eine und einzige Vogelgöttin – sie wurde in grosser Zahl und zu verschiedenen Zeiten entsprechend unterschiedlich dargestellt. Die Grundgedanken, die in ihr symbolisch zum Ausdruck kommen, dürften in sich allerdings sehr nahe verwandt sein und sich in ihrem Ursprung gleichen. Dieser Symbolik möchte ich hier ein wenig nachgehen. Archäologische Funde belegen, dass uns die Vogelgöttin bereits seit der Altsteinzeit begleitet. So zeigt zum Beispiel eine Höhlenzeichnung in der Grotte von Pech Merle, Frankreich, eine Schwangere in Menschengestalt mit einem Vogelkopf, flügelähnlichen Armen und einem eiförmigen Gesäss. Das Alter dieser Darstellung wird grob auf 20'000 Jahre datiert.1 Sicherlich aber gibt es auch Zeugnisse, die zeitlich noch viel weiter zurück reichen.
Vom Ur-Ei
Augenfällig an dieser Darstellung ist die Doppelung. Wir haben einen schwangeren Frauenkörper mit Vogelkopf vor uns, der zugleich ein Ei in sich trägt. Die Figur ist somit doppelt schwanger. Viele weitere Darstellungen der Vogelgöttin mit eiförmigem Gesäss belegen, dass es sich hier nicht um eine zufällige, sondern um eine symbolisch aussagekräftige Abbildung handelt. Sicherlich nicht umsonst spielt in vielen Schöpfungsmythen gerade das Ei eine zentrale Rolle. Oft wird da vom Wasser als dem ursprünglichen Element des Universums erzählt, in welchem eine Schlange oder ein (Wasser-)Vogel das Ur-Ei erschafft, aus dem hernach die ganze Welt hervor geht. Zuweilen entsteht aus der unteren Schalenhälfte Land und Meer, aus der oberen Schalenhälfte der Kosmos. In der Symbolsprache des Menschen lassen sich Schlange und Vogel über weite Strecken nur schwer voneinander trennen, da beide oft eine ähnliche Symbolik transportieren, und so begleitet uns hier auch die Schlange ein Stück weit.
Die besondere Vitalkraft des Eies
Das Ei repräsentiert eine enorme Lebenskraft. Nicht nur, weil es durch sein häufiges Vorkommen und seine reichhaltigen Nährstoffe für den Menschen ein so kostbares Lebens-Mittel ist, sondern auch wegen der doppelten Geburt, für die es steht. Wenn wir zu Ostern gerade junge Kräutlein auf unseren Ostereiern abbilden, so beschwören wir dadurch letztlich noch immer die Lebenskräfte und folgen damit einer Symbolik, die wir der Idee nach bis in die Altsteinzeit zurück verfolgen können – auch wenn wir uns des rituellen Gehalts unseres Tuns nicht mehr unbedingt bewusst sind. Schlange wie auch Vogel werden zunächst als Ei geboren, und wenn sie schlüpfen, kommen sie ein zweites Mal zur Welt. Symbolisch betrachtet verfügen Schlange und Vogel durch diese doppelte Geburt über eine besonders hohe Vitalkraft. Das ist, was auch in der erwähnten Darstellung von Pech Merle zum Ausdruck kommt. Die Vogelgöttin garantiert durch ihre Schwangerschaft das neue Leben und birgt in ihrem Gesäss-Ei die ganze Welt.
Vogelgöttin – Todesgöttin
Ob sie wohl deshalb auch eine Todesgöttin ist? In einem zyklischen Weltbild gilt der Tod nie einfach als Schlusspunkt eines zu Ende gegangenen Lebens. Märchen und Mythen erzählen uns immer wieder von paradiesischen Jenseitsorten, in welchen die Ahnenseelen von Pflanzen, Tieren und Menschen Wandlung erfahren, ehe sie wieder geboren werden. Todesgöttinnen tragen daher – in einem ursprünglichen Sinn betrachtet – immer auch den Lebens-Aspekt der Geburt in sich. Die Vogelgöttin mit ihrer magisch verstärkten Vitalkraft dürfte hier nicht umsonst eine herausragende Stellung einnehmen. Die Archäologin Marija Gimbutas weist darauf hin, dass die Vogelgöttin auffallend häufig gerade auch Schlangenmuster und Zeichen trägt, die das lebenspendende Wasser symbolisieren. Etwas, das abermals die vitalen Kräfte der Vogelgöttin unterunterstreicht.2
Wasservögel
Wohl auch dank dieser besonderen Nähe zum Wasser, sind es gerade die Wasservögel, die in der symbolischen Darstellung besondere Verehrung geniessen. Sie sind denn auch die einzigen Lebewesen, die sich gleichermassen an Land, auf dem Wasser und in der Luft bewegen können. Sie verbinden damit die drei Ebenen, die uns aus dem schamanischen Stockwerkbild bekannt sind und gelten deshalb als besonders heilig. Ihre Nähe zum Wasser legt zudem eine Verbindung mit den „oberen Wassern“, dem Fruchtbarkeit spendenden Regen nahe. Die Idee, dass die Welt aus einem Ei hervor gegangen ist, das von einem Wasservogel gelegt wurde, finden wir in allen alten Kulturen überliefert und können sie in später folgenden Mythenschichten oft noch lange greifen.3
Fliegen und Zauberei
Die Mythenforscherin Vera Zingsem nennt einen weiteren Gedanken, der eng mit der Vogelgöttin verwoben ist: „Fliegen und Zauberei werden in allen Kulturen auf der ganzen Welt zusammengesehen. Die Fähigkeit zum Flug ist ein Zeichen für die Überwindung der Gesetze von Raum und Zeit und wurde daher in erster Linie Gottheiten zugeschrieben. Menschen, die ein vergleichbares Vermögen ausgebildet haben, nennt man heutzutage Schamaninnen und Schamanen. Ihnen wird vor allem die Fähigkeit zuerkannt, jenseitige Welten unter Zurücklassung ihrer körperlichen Hülle erreichen und somit ‚durch die Lüfte fliegen’ zu können.“4 Die Mythe von der „Schwanfrau als Stamm-Mutter der burjatischen Schamanen“ erzählt denn auch davon, wie die Kinder, die aus der Verbindung von Schwanenfrau und Menschenmann hervor gegangen sind, zu den ersten Schamaninnen und Schamanen werden.
Von den Schwanenjungfrauen
Die Märchen und Mythen, die von Schwanenjungfrauen erzählen, sind weit verbreitet und dürften wesentlich von den ursprünglichen Ideen rund um die Vogelgöttin beeinflusst sein. So auch die Mythen rund um die germanische Göttin Freyja. Sie ist allgemein als Liebesgöttin bekannt, doch finden wir in ihr auch eine Todesgöttin, was sich unter anderem darin zeigt, dass sie über den „Himmel“ Folkwang wacht – ein Jenseitsort, der den sowohl glücklich wie auch unglücklich Liebenden vorbehalten ist. Ihre verschiedenen Vogelgewänder zeichnen Freyja allgemein als eine Herrin der Lüfte aus. Als Todesgöttin treffen wir sie vor allem im Schwanenhemd an. Wieder kommt hier die Nähe von Jenseitsort, Vogelfrau und Wahrsagekunst zum Ausdruck, denn die Walküren, als deren Anführerin Freyja gilt, sind auch mit der Wahrsagekunst vertraut.
Von den Walküren
Sie sind schnell wie der Wind, wenn sie auf ihren Wolkenrossen reiten. „Windsbräute“ werden sie daher auch genannt und „Schicksalskundige Mädchen“. Wie Schutzengel breiten sie ihre Schwanenflügel über ihre Schützlinge während der Schlacht und begleiten die Toten nach Walhalla oder Folkwang. Zu entscheiden, wer in welche der beiden Jenseitsburgen gehört, ist Teil ihrer Aufgabe. Häufig sitzen sie an einem Wasser und betreiben die Kunst des Wahrsagens. „Die Art und Weise, wie Walküren die Geschicke ihrer Schutzbefohlenen lenken, ist in höchstem Masse magisch. Vorzugsweise benutzen sie dazu den Gesang, oft kombiniert mit der Tätigkeit des Spinnens oder Webens.“5 Allesamt Tätigkeiten, die eng mit der Magie der Lebensentstehung verbunden sind. Etwas wird ins Leben gesungen, ein Lebensfaden wird gesponnen, oder es werden Geschicke gewoben... und wieder sind die Grenzen von Zeit und Raum aufgehoben, können die Vogelfrauen zwischen den Welten der Lebenden und der Toten, zwischen dem was war und dem was sein wird oder sein könnte, hin- und her gehen.
Vogelgöttin und Engel
Der Gedanke, dass die Vorstellung der Engel aus dem Bild der Walküren abgeleitet ist, die ihre Flügel über ihren Schützlingen ausbreiten, scheint naheliegend. Dass die Symbolik der Vogelgöttin auf die Engel übertragen wurde, davon geht auch die FährFrau Sabine Brönnimann aus: „Im Bild der Vogelgöttin schlummert die archaische Vorstellung der Seele, die – wenn die Erdenzeit sich neigt – ihre Flügel ausbreitet und sich in den Himmel erhebt. Sie versinnbildlicht die uralte Sehnsucht des Menschen nach dem Fliegen und erinnert uns an unseren Traum, im Tod die Erdanziehung überwinden zu können und uns über den Rand des Himmels hinaus zu erheben. Das Motiv der Vogelgöttin als befreiendes Todessymbol hat sich in der Vorstellung von Engeln bis in unsere Zeit erhalten. Auch sie sind geflügelte Seelenwesen aus der unsichtbaren Welt mit besonderen Kräften, Eigenschaften und Talenten.“6
Die Vogelgöttin in Geier-Gestalt
Für manche mag die Bestattungskultur, wie wir sie unter anderem von der jungsteinzeitlichen Stadt Catal Hüyük her kennen, reichlich gewöhnungsbedürftig sein. Da werden die Toten zur Entfleischung den Geiern überlassen, und erst später werden die zurück bleibenden Knochen in der Erde bestattet. Doch was geschieht denn da eigentlich? Die göttlich gesehenen Geier tragen die Toten hinüber in die andere Welt. Physisch gehen sie durch den Stoffwechsel der Vögel wieder in den ewigen Kreislauf ein. Hier können wir beobachten, wie das Gedachte in konkreter Praxis gelebt wird. In gewisser Weise sagt uns dies wie fast alles, wofür die Vogelgöttin steht, dass alles mit allem verbunden ist, und dass nichts aus diesem ewigen Kreislauf von Kommen, Werden, Vergehen, Wandeln und Wiederkehren herausfallen kann. Oder ist es rein zufällig, dass die grosse ägyptische Muttergöttin Isis, welche so oft mit einem Kind auf dem Schoss abgebildet wird, ausgerechnet Geierflügel trägt?
Zwischen den Flügeln geborgen
Ob sie dereinst auch zu mir kommen wird, die Vogelfrau, wenn meine Zeit sich neigt? Oder sind die Flügel meiner Seele stark genug, um mich, leicht geworden durch den Tod, in die andere Welt hinüber zu tragen? Dieses Geheimnis bleibt. Doch weiss ich es zwischen den Flügeln der Vogelfrau wohl behütet, zusammen mit einer ganzen Welt.
Literatur
1 Höhlenzeichnung, ca. 20'000 Jahre alt. Siehe dazu Buffie Johnson, Die Grosse Mutter in ihren Tieren, Olten 1990, S. 2
2 Marija Gimbutas, Göttinnen und Götter im Alten Europa. Mythen und Kultbilder 6500 – 3500 v. Chr. Uhlstädt-Kirchhasel 2010, S. 101 ff. und 111 ff.
3 Gimbutas, a.a.O. S. 102 f.
4 Vera Zingsem, Der Himmel ist mein – die Erde ist mein. Göttinnen grosser Kulturen im Wandel der Zeiten. Tübingen 1995, S. 202
5 Vera Zingsem, Freyja, Iduna & Thor. Vom Charme der germanischen Göttermythen. Tübingen 2010, S. 131
6 Sabine Brönnimann, FährFrauenPost, Frühlingsausgabe 2017, Online-Publikation, Rorbas 2017